Was ist Kapillarität?

Kapillarität beschreibt das Phänomen, dass Flüssigkeiten in engen Röhren oder Hohlräumen entgegen der Schwerkraft aufsteigen oder sich horizontal ausbreiten. Der Begriff leitet sich vom lateinischen "capillus" (Haar) ab und bezieht sich auf haarfeine Röhrchen.
In porösen Baustoffen bilden die Poren ein Netzwerk solcher Kapillaren, durch das Wasser transportiert wird. Kapillaraktive Materialien wie Kalkputz können dadurch Feuchtigkeit von der Oberfläche ins Innere leiten und umgekehrt wieder an die Oberfläche transportieren. Diese Eigenschaft ist entscheidend für die Feuchteregulierung und das Trocknungsverhalten von Wänden.
Physikalische Grundlagen
Der kapillare Wassertransport beruht auf dem Zusammenspiel von Adhäsion und Kohäsion. Adhäsion ist die Anziehungskraft zwischen Wassermolekülen und der Porenwandung. Kohäsion bezeichnet den Zusammenhalt der Wassermoleküle untereinander. In engen Kapillaren überwiegt die Adhäsion, das Wasser wird an der Porenwand nach oben gezogen und nimmt durch Kohäsion weitere Moleküle mit.
Die Steighöhe hängt vom Porendurchmesser ab: Je enger die Kapillare, desto höher steigt das Wasser. In einer Kapillare mit 0,1 mm Durchmesser steigt Wasser etwa 15 cm hoch, bei 0,01 mm bereits 1,5 Meter. Sehr weite Poren zeigen kaum kapillare Wirkung, extrem feine Poren können den Transport durch Reibung wieder bremsen. Optimal sind mittlere Porengrößen im Bereich von 0,001 bis 0,1 mm.
Kapillarität in Baustoffen
Poröse Baustoffe wie Kalkputz, Ziegel oder Naturstein besitzen ein System feiner Poren, das kapillaren Wassertransport ermöglicht.
Diese Eigenschaft wird als Kapillaraktivität bezeichnet und hat praktische Auswirkungen:
- Feuchteaufnahme: Wasser wird von der Oberfläche ins Material gesaugt
- Feuchteverteilung: Lokale Durchfeuchtung verteilt sich im Material
- Rücktrocknung: Feuchtigkeit wandert zurück zur Oberfläche und verdunstet
- Aufsteigende Feuchte: Wasser steigt aus dem Erdreich ins Mauerwerk
Die Kapillaraktivität unterscheidet sich je nach Material. Kalkputz mit seiner offenporigen Struktur ist stark kapillaraktiv. Zementputz mit dichterem Gefüge zeigt geringere Kapillarität. Dispersionsfarben und Kunstharzputze verschließen die Kapillaren an der Oberfläche und unterbrechen den Feuchtetransport.
Bedeutung für das Raumklima
Kapillaraktive Wandoberflächen tragen wesentlich zur Feuchteregulierung in Innenräumen bei. Bei erhöhter Luftfeuchtigkeit, etwa nach dem Duschen oder Kochen, nehmen die Wände Feuchtigkeit auf. Das Wasser wird durch Kapillarkräfte von der Oberfläche ins Putzinnere transportiert, wo es zwischengespeichert wird.
Sinkt die Luftfeuchtigkeit später, kehrt sich der Prozess um: Die Kapillarkräfte transportieren das gespeicherte Wasser zurück an die Oberfläche, wo es verdunstet. Dieser Mechanismus funktioniert nur bei durchgängig kapillaraktiven Wandaufbauten. Eine diffusionsdichte Beschichtung unterbricht den Kreislauf und verhindert die Rücktrocknung.
Kapillarität und Diffusion
Kapillarität und Diffusion sind zwei unterschiedliche Transportmechanismen für Feuchtigkeit:
- Kapillarität: Transport von flüssigem Wasser durch Poren, angetrieben durch Oberflächenspannung
- Diffusion: Transport von Wasserdampf durch das Material, angetrieben durch Dampfdruckgefälle
Beide Mechanismen ergänzen sich. Diffusion wirkt langsam und kontinuierlich, Kapillarität schnell und bei direktem Wasserkontakt. Ein guter Baustoff für Feuchteregulierung sollte beide Eigenschaften aufweisen: hohe Diffusionsoffenheit (niedriger sd-Wert) und gute Kapillaraktivität.
Kalkputz erfüllt beide Anforderungen. Seine Porenstruktur ermöglicht sowohl Dampfdiffusion als auch kapillaren Wassertransport. Dadurch kann er sowohl Luftfeuchtigkeit regulieren als auch kurzfristige Durchfeuchtungen schnell wieder abtrocknen.
Wasseraufnahmekoeffizient
Die Kapillaraktivität eines Baustoffs wird durch den Wasseraufnahmekoeffizienten (w-Wert) quantifiziert. Er gibt an, wie viel Wasser pro Fläche und Zeiteinheit kapillar aufgenommen wird. Die Einheit ist kg/(m²·√h).
Richtwerte für verschiedene Materialien:
- Kalkputz: 1 bis 3 kg/(m²·√h)
- Zementputz: 0,2 bis 0,5 kg/(m²·√h)
- Ziegel: 2 bis 15 kg/(m²·√h) je nach Sorte
- Beton: 0,1 bis 0,5 kg/(m²·√h)
Ein hoher w-Wert bedeutet schnelle Wasseraufnahme und gute Kapillaraktivität. Für die Rücktrocknung ist ein hoher w-Wert vorteilhaft, da das Wasser schnell an die Oberfläche transportiert und verdunstet wird.
Praktische Bedeutung
Im Baualltag zeigt sich Kapillarität auf verschiedene Weise. Aufsteigende Feuchtigkeit in Kellerwänden ist ein Beispiel für unerwünschte Kapillarwirkung: Wasser steigt aus dem Erdreich im Mauerwerk auf. Horizontalsperren unterbrechen diesen kapillaren Transport.
Erwünscht ist Kapillarität bei der Trocknung von Wänden. Nach Wasserschäden oder bei Neubaufeuchte transportiert ein kapillaraktiver Putz die Feuchtigkeit an die Oberfläche, wo sie verdunsten kann. Diffusionsdichte Beschichtungen verhindern diese Trocknung und können zu Bauschäden führen.
Bei der Sanierung feuchter Wände ist die Kapillaraktivität des Putzsystems entscheidend. Kalkputz kann dank seiner kapillaraktiven Struktur auch auf feuchten Untergründen aufgebracht werden und unterstützt die Austrocknung. Zementputze oder Sperrputze hingegen blockieren den Feuchtetransport und halten die Nässe im Mauerwerk.
