Was ist Hygroskopizität?

Hygroskopizität beschreibt die Eigenschaft eines Materials, Wasserdampf aus der Umgebungsluft aufzunehmen, im Inneren zu speichern und bei sinkender Luftfeuchtigkeit wieder abzugeben.
Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab: "hygros" (feucht) und "skopein" (beobachten). Hygroskopische Materialien stehen in ständigem Feuchteaustausch mit ihrer Umgebung und streben ein Gleichgewicht mit der umgebenden Luftfeuchtigkeit an. Diese Eigenschaft ist für das Raumklima von großer Bedeutung: Hygroskopische Wandoberflächen puffern Feuchtespitzen ab und sorgen für eine gleichmäßigere Luftfeuchtigkeit.
Funktionsprinzip
Der Feuchteaustausch zwischen Material und Luft erfolgt durch Adsorption und Desorption. Bei hoher Luftfeuchtigkeit lagern sich Wassermoleküle an der inneren Oberfläche des Materials an (Adsorption). Das Material nimmt Feuchtigkeit auf, ohne dabei nass zu werden. Sinkt die Luftfeuchtigkeit, geben die Moleküle das gespeicherte Wasser wieder an die Raumluft ab (Desorption).
Dieser Prozess läuft kontinuierlich und selbstregulierend ab. Je größer der Unterschied zwischen Materialfeuchte und Luftfeuchtigkeit, desto schneller der Austausch. Im Gleichgewichtszustand entspricht die Materialfeuchte der relativen Luftfeuchtigkeit, und der Austausch kommt zum Stillstand.
Hygroskopizität verschiedener Baustoffe
Nicht alle Baustoffe sind gleich hygroskopisch. Die Fähigkeit zur Feuchteaufnahme hängt von der inneren Oberfläche und der Porenstruktur ab.
Stark hygroskopisch:
- Lehm: Kann bis zu 30 g Wasser pro m² aufnehmen
- Kalkputz: Etwa 15 bis 20 g Wasser pro m²
- Holz: Je nach Holzart 10 bis 20 g pro m²
- Zellulosedämmung: Sehr hohe Aufnahmekapazität
Gering hygroskopisch:
- Beton: Unter 5 g Wasser pro m²
- Gipskarton: Etwa 5 bis 10 g pro m²
Nicht hygroskopisch:
- Glas, Metall, Kunststoffe
- Dispersionsfarben (versiegeln die Oberfläche)
Die Werte beziehen sich auf die Feuchteaufnahme bei einem Anstieg der Luftfeuchtigkeit von 50% auf 80% innerhalb von 12 Stunden.
Bedeutung für das Raumklima
Hygroskopische Wandoberflächen wirken als Feuchtepuffer und stabilisieren die Raumluftfeuchtigkeit. Nach dem Duschen nimmt eine Kalkputzwand die überschüssige Feuchtigkeit auf und verhindert Kondensation. Trocknet die Luft später durch Lüften oder Heizen aus, gibt die Wand die gespeicherte Feuchtigkeit zurück.
Dieser Puffereffekt hält die relative Luftfeuchtigkeit im behaglichen Bereich zwischen 40% und 60%. Zu trockene Luft reizt die Schleimhäute und begünstigt Erkältungen. Zu feuchte Luft fördert Schimmelwachstum und fühlt sich unangenehm an. Hygroskopische Materialien gleichen beide Extreme aus und schaffen ein ausgeglichenes Raumklima ohne technische Hilfsmittel.
Hygroskopizität vs. Diffusionsoffenheit
Hygroskopizität und Diffusionsoffenheit werden oft verwechselt, beschreiben aber unterschiedliche Eigenschaften:
- Hygroskopizität: Fähigkeit, Feuchtigkeit aufzunehmen und zu speichern (Pufferwirkung)
- Diffusionsoffenheit: Fähigkeit, Wasserdampf durch das Material hindurchzulassen (Transport)
Ein Material kann diffusionsoffen sein, ohne stark hygroskopisch zu sein (z.B. Mineralwolle). Umgekehrt kann ein hygroskopisches Material eine begrenzte Diffusionsoffenheit haben. Für optimale Raumklimaregulierung sollten Wandbaustoffe beide Eigenschaften vereinen. Kalkputz erfüllt diese Anforderung: Er ist hochgradig diffusionsoffen (sd-Wert unter 0,05 m) und gleichzeitig stark hygroskopisch.
Sorptionsisotherme
Die Hygroskopizität eines Materials wird wissenschaftlich durch die Sorptionsisotherme beschrieben. Diese Kurve zeigt, wie viel Feuchtigkeit das Material bei verschiedenen Luftfeuchtigkeiten im Gleichgewicht speichert.
Aus der Sorptionsisotherme lassen sich wichtige Kennwerte ablesen:
- Gleichgewichtsfeuchte bei bestimmter Luftfeuchtigkeit
- Aufnahmekapazität bei Feuchteänderungen
- Hysterese zwischen Adsorption und Desorption
Materialien mit steiler Sorptionsisotherme reagieren stark auf Feuchteänderungen und haben eine hohe Pufferwirkung. Flache Kurven zeigen geringe Hygroskopizität an.
Praktische Auswirkungen
Im Alltag zeigt sich die Hygroskopizität auf verschiedene Weise. In Räumen mit hygroskopischen Oberflächen beschlagen Spiegel nach dem Duschen weniger stark, da die Wände einen Teil der Feuchtigkeit aufnehmen. Im Winter bleibt die Luft weniger trocken, weil die Wände bei sinkender Heizungsluftfeuchte Wasser abgeben.
Auch für die Bausubstanz ist Hygroskopizität vorteilhaft. Feuchtespitzen werden abgepuffert, bevor sie zu Kondensation an kalten Oberflächen führen. Das Risiko von Schimmelbildung sinkt deutlich. Gleichzeitig bleibt die Wandkonstruktion trockener, was die Dämmwirkung verbessert und Bauschäden vorbeugt.
